Ich gehe durch die Kaiserslauterer Fußgängerzone. So aus den Augenwinkeln heraus nehme ich eine Frau wahr, die gerade aus dem Laden herauskommt. Ungefähr so alt wie ich, und sie kommt mir irgendwie bekannt vor… Sie schaut zu mir hin, und schon bin ich vorbei. „He, Volker!“, ruft es mir hinterher. Ich dreh mich um. Die Stimme kenne ich doch. „Mensch, Christina. Du bist es.“ Eine Mitschülerin von mir! „Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“ Und die Freude ist riesengroß.
Ob das nicht ein wenig dem nahekommt, was Maria von Magdala am Grab Jesu erlebt hat? Für mich steht im 20. Kapitel des Johannesevangeliums eine der ergreifendsten Szenen der ganzen Bibel. Besser verstanden habe ich sie durch eine kleine Erzählung, die der Schriftsteller Patrick Roth verfasst hat. Ein faszinierender Mann: Er hat lange in Los Angeles gelebt und in Hollywoods Filmindustrie gearbeitet. Seine Erzählung heißt: „Magdalena am Grab“. Sie handelt davon, dass einige angehende Schauspieler in Hollywood diese Szene aus dem Johannesevangelium nachspielen und dabei im Text eine eigenartige Leerstelle entdecken.
Erst ist alles so, wie wir es vom Evangelium kennen: Maria – diese Rolle übernimmt eine junge schöne Frau namens Monica Esposito – steht vor dem Grab. Sie ist aufgelöst, weil Jesus, ihr Ein und Alles, nicht mehr da ist. Ein Fremder spricht sie an. Und nun heißt es bei Johannes: Sie wendet sich um. Patrick Roth ist genau: Die Grabkammern sind – wie es bei den Juden Sitte war – nach Osten hin geöffnet, so dass die Verstorbenen bei der Auferstehung der Toten dem Licht zugehen können. Es ist früher Morgen. Also schaut Maria gegen die aufgehende Sonne, und die Gestalt, der sie sich zuwendet, ist nur als Silhouette zu sehen. Es ist wohl ein Gärtner, denkt sie. Magdalena fragt ihn: „Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast, dann will ich ihn holen.“ Und nun kommt der entscheidende Moment: Die unbekannte Gestalt sagt: „Mariam.“ Sie wird bei ihrem Namen gerufen. Ein blitzartiges Wiedererkennen, ein Augenblick größter Nähe. Er ist es! Doch beim Nachspielen macht Monica plötzlich „Stop!“ Sie hat ein Problem. Bei Johannes steht, dass sie sich nochmals umwendet? Dreht sie sich im Kreis? Die Lösung der Schauspielschüler: Maria muss an dem Unbekannten vorbeigegangen sein, vielleicht in ihrem Eifer, den Leichnam Jesu zu suchen. Sie muss die Begegnung verpasst haben, bis sie die Stimme in ihrem Rücken hört, sie sich noch einmal umwendet und ihn erkennt: Jesus, und voll Freude ausruft: „Rabbuni!“ – „Meister!“ „Magdalenensekunde“ nennt das Patrick Roth.
Ob Sie das auch kennen, liebe Leserin, lieber Leser? Dass Sie sich von Jesus mit Namen angesprochen fühlen? Ja? Wunderbar. Das ist Ihr persönliches Ostern! Es kann aber auch sein, dass Sie sagen: Ich habe noch nie seine Stimme gehört. „Ich gehe zwar an Ostern in die Kirche, vielleicht sogar jeden oder fast jeden Sonntag, weil es mir guttut. Aber dass ich mich von ihm mit Namen angesprochen fühle, das kann ich nicht sagen. Ja, schön wäre es, an ihn zu glauben. Aber ich höre ihn nicht.“ Dann ist es möglich, dass es bei Ihnen ganz ähnlich ist wie bei Maria Magdalena. Könnte es sein, dass Jesus schon ihren Weg kreuzte, aber Sie an ihm vorbeigegangen sind, weil irgendwas Sie ihn hat nicht sehen lassen – so wie die aufgehende Sonne am Ostermorgen bei Maria?
Mein Tipp: Nehmen Sie sich in diesen hoffentlich ruhigen Ostertagen einmal die Zeit, gewissermaßen im Garten Ihres Lebens spazierenzugehen. Fragen Sie sich einmal: Was waren die prägenden Ereignisse in meiner Geschichte? Spielen Sie einzelne Episoden in Gedanken nach wie Patrick Roths Theatertruppe, reden Sie mit anderen darüber. Vielleicht waren es genau solche verzweifelten Momente wie bei Maria, wo Sie geweint haben, am Ende waren. Und Sie merken jetzt: Sie haben es überstanden. Mehr noch: Sie sind stärker geworden. Könnte da nicht Jesus im Spiel gewesen sein, der jetzt zu Ihnen sagt: „Du, ich habe dich nicht alleingelassen, ich bin bei dir“? Oder Sie erinnern sich an unbeschreibliche Glücksmomente, die erste Liebe, den Hochzeitsantrag, das erste Kind, Ereignisse, die Sie vielleicht noch nie mit Jesus in Verbindung gebracht habe. Könnte es sein, dass Jesus Sie darin anredet und sagt: „Du, ich freu mich mit Dir. Denn ich lebe, und auch du sollst leben“? Mein Osterwunsch für Sie: dass Sie viele solche Magdalenensekunden entdecken, sich umwenden, Jesus sehen und wie Maria voll Freude rufen können: „Rabbuni!“
Volker Sehy (Maria Rosenberg)