Du hast das Team der Netzgemeinde rausgeschickt. Auf die Straße. Aus 6 Orten konntest du wählen. Für den Wagenplatz haben die wenigsten gestimmt (39), dann folgte die Brücke (95), danach das Industriegebiet (117) und dann gleichauf der Spielplatz (131) und das Kneipenviertel (131). Die meisten haben uns in die Fußgängerzone geschickt (164). Und siehe da, dort war er. Auf einem Rucksack.
Die Geschichte von Tobias vom da_zwischen-Team:
Für Donnerstag hab ich mir drei Stunden Fußgängerzone freigenommen. Das war der Auftrag der Community. Ehrlich gesagt hab ich mich auf den Wagenplatz oder die Brücke gefreut. „Fußgängerzone kann jeder“, dachte ich. So bin ich manchmal: Hab das Leistungsdenken nie ganz aus mir rausbekommen. Zurecht kreuzt mir da Gott immer mal dazwischen.
Mein ursprünglicher Plan war gut: Hab nen Termin in Karlsruhe am Abend. Werde 3 Stunden vorher in Karlsruhe aus dem Zug steigen und ohne Handy und mit offenen Augen wahrnehmen, was mir dort begegnet. Wie immer kam es anders:
Ich auf dem Weg zum Zug in Freiburg. Erst mal verpasse ich den Zug um 10.57 Uhr und am Bahnhof zücke ich mein Handy, um zu schauen, wann der nächste fährt. Ich hab die junge Frau schon kurz wahrgenommen, die da auf dem Boden sitzt und eine Pizzaschachtel mit Edding beschriftet hat. Sie spricht mich von unten an: „Darf ich mit deinem Handy kurz telefonieren?“ Ich schau kurz auf das Schild: „Bitte etwas Geld für ein Flixticket“. Ok. Ich geb ihr mein Handy. Kurz blitzen sie in mir auf, die Gedanken unserer anonymen und misstrauenden Welt: Handy abzocken; meine Nummer abzocken? Aber zum Glück bin ich immer eher gutgläubig als misstrauend. Ich frag sie, wohin sie will. Sie: Nach Kassel, versuch Mama zu erreichen, bin von meinem Freund abgehauen. Will aber zurück zu ihm. Und ich frag sie, was sie für interessante Tattoos im Gesicht und auf der Hand hat. Sie: Bin so doof gewesen und hab mir selbst Punkte ins Gesicht tätowiert. Ich sag: Dafür is es aber gut geworden. Dann denk ich: hab 45 min Zeit bis der nächste Zug kommt. Und ich frag sie nach ihrem Freund. In wenigen Worten schiebt sie Fetzen ihrer Geschichte zwischen ihre Tränen. „Hab mit ihm ein Jahr auf der Straße gelebt. Er sagt, mit mir kann man nicht reden, und er hält mir immer vor, wie er andere Frauen viel attraktiver findet als mich….. Ich hab ihn betrogen, weil ich mich so allein gefühlt hab. Ich bin scheiße…. Ich hab mich nie richtig zuhause gefühlt….“
Ich hör zu. Stammel ein paar Versuche voll Aufmunterung dazwischen. Frag, ob sie einen Menschen hat, bei dem sie sich zuhause fühlt. Nein. Hmm. Ich trink nen Kaffee, willst du auch einen? Ne, aber einen Tee. OK. Ich hol Tee. Ich geb ungern Geld, aber sie erzählt mir, dass es schon reicht. In dem Moment werfen 3 junge Männer mit Migrationshintergrund Münzen in den Pappbecher. Komisch, denk ich, die wirken wie Geflüchtete und geben was von ihren paar Münzen ab. Und komisch, dass mir das überhaupt bemerkenswert erscheint.
Ok, ich komm später nochmal. Ich geh Kaffee trinken, hol einen frischen Tee mit frischer Zitrone und Ingwer im Pappbecher. Dann zu ihr zurück – Lächeln uns an. Ich sag ihr ein freundliches Wort und geb ihr den Tee. Als ich weggehe, erinnere ich mich an ihren Rucksack, auf dem sie saß.
An diesem Tag sehe ich überall Menschen mit Rucksäcken. Da sitzen wir drauf. Alles, was wir erfahren haben, ist da drin. Und manchmal ist soviel Scheiße im Gepäck. Und weil wir nur dieses Gepäck haben, fällt das Ausmisten so schwer.
Zum Glück gibt es diesen Gott, der auf einem Rucksack sitzt. Ein Gott, der unsere Rucksäcke kennt und mitfühlt. Und ab und zu – ganz leise – funkelt das tiefe Geheimnis durch, dass er unsere Rucksäcke trägt. Vielleicht nur ein Stück weit: soweit, dass wir ausmisten können.
Für heute bete ich darum: Ich will mehr Tee holen. Anderen eine Freude machen. Mich zum Menschen mit Rucksack setzen. Zuhören. Mitfühlen. Das macht den Rucksack nicht leichter. Aber vielleicht duftet der Rucksack danach ein bischen nach Ingwer und Zitrone.
Danke Netzgemeinde, dass ihr mir eine Viertelstunde Zuhören-Dürfen geschenkt habt. Eine Viertelstunde Mitfühlen. Eigentlich nicht viel.
Und doch alles, worum es geht.
Euer Tobias von da_zwischen
Eine wirklich berührende Geschichte.